Camino de Santiago – Eine Pilgerreise

Saint-Jean-Pied-de-Port – Santiago de Compostela – Finisterre

 

 

Vorüberlegung, Planung, erste Trennungen

Ich hatte seit 7 Jahren vor, den Jakobsweg zu gehen. Allerdings wollte ich ihn nicht alleine gehen aus Angst (aus heutiger Sicht Quatsch!). Also plante ich schließlich, in 2007 mit Robert, einem Kommilitonen, zusammen pilgern. Aber irgendwie kam alles anders, als im Vorfeld geplant: Unsere Tempi passten leider so überhaupt nicht zusammen. Er lief viel langsamer als ich, und außerdem wollte er viel mehr und viel längere Pausen machen als ich. Das konnte nicht lange gut gehen. Und bevor wie uns noch hätten streiten können, habe ich mich am Mittag unseres vierten Wandertags von ihm verabschiedet, natürlich in Frieden und gegenseitigem Einverständnis.

 

 

Die Menschen auf dem Weg nach Santiago

Aber das war das Beste, was ich hätte machen können! Robert kam nämlich im Endeffekt mehrere Tage nach mir in Santiago an. Fünf Minuten, nachdem ich mich von ihm getrennt hatte, traf ich auf einen 22 jährigen Wirtschaftsstudenten aus Mailand, der genau mein Tempo lief und mit dem ich die verbleibenden 800 Kilometer bis Santiago und noch weiter bis ans Meer gepilgert bin. Noch am selben Tag – aber doch stärker und enger zwei Tage darauf – bildete sich eine Gruppe (was sehr selten ist auf dem Camino; normalerweise lernt man ein paar Leute kennen, läuft kurz mit ihnen, trennt sich wieder u.s.w.) bestehend aus einem 56jährigen Geschichtsprofessor aus Bilbao, einem 36jährigen Englischlehrer aus Almería, einem 35jährigen Osteopathen aus Madrid, dem 22jährigen Wirtschaftstudenten und eben mir. Sehr außergewöhnlich!

 

 

Wir sind nicht den ganzen Tag zusammengelaufen (nur der Italiener und ich haben das meist gemacht), aber man weckte sich morgens gegenseitig, wartete, bis alle fertig waren, brach gemeinsam auf, redete und sang viel miteinander, man suchte sich dieselben Herbergen aus, plante die Wege gemeinsam, traf sich also auch nachmittags in der Herberge (spätestens da, meist aber schon in irgendwelchen Bars auf dem Weg), man aß gemeinsam und verbrachte den Rest des Tages zusammen. Je mehr wir uns kennen und schätzen lernten, desto mehr gingen wir auch tagsüber immer mal wieder zusammen. Eine ganz tolle Gruppe, tolle Menschen, jeder auf seine Art. Leider musste der Englischlehrer in León abbrechen, weil er Freunden versprochen hatte, mit ihnen auf ein Festival zu fahren, und der Geschichtsprofessor in Astorga, weil er zu seiner kranken Schwiegermutter in Ostfriesland abkommandiert wurde, aber wir drei anderen sind auch den Rest des Weges noch gemeinsam gelaufen. Und je weiter man lief, desto eingeschworener wurde die Gruppe und desto dankbarer war ich, diese wunderbaren, sehr verschiedenen, sehr hilfsbereiten, lustigen und lieben Menschen um mich zu haben und mit ihnen das Leben auf dem Camino zu teilen, in allen schönen Momenten, aber auch in Momenten der Verzweiflung, Trauer, Kraftlosigkeit.

 

 

Die unterschiedlichen Landschaften

Die Landschaft war wunderschön, oder besser: die Landschaften. Es begann mit Gebirge, sehr steil, alles grün, sehr neblig in den Pyrenäen, danach wurde die Sicht besser, durch bergige Waldlandschaften, Weinberge (tagelang), ganz flache Weizenfelder (wochenlang), bis wir wieder in Galicien in bergigere und grünere Regionen kamen, in denen wir doch tatsächlich oft die Regencapes brauchten… Sehr abwechslungsreich und wunderschön.

 

 

Ausrüstung und Bekleidung

Mit der Ausrüstungswahl hatte ich richtiges Glück. Ich hatte sowohl an Klamotten, als auch an Rucksack und an Schuhen (am wichtigsten) genau die richtige Wahl getroffen. Ich hatte einen für mich extrem schweren Rucksack auf dem Rücken; man rechnet eigentlich ein Zehntel des Körpergewichts. Ich habe 25% 900 km durch Spanien geschleppt. Alleine die Kamera wog einiges. Aber mit einem guten Rucksack mit gutem Tragesystem ist das kein Problem. Ich hatte keine Wanderschuhe, sondern gute Asics mit. Laufschuhe. Die perfekte Wahl. Ich habe bei anderen Leuten Blasen gesehen, die so groß waren wie die komplette Fußsohle und die sich dann auch noch entzündeten, so dass man mit 40 Fieber flachlag.  Ich selbst hatte lediglich zwei winzige Bläschen an den kleinen Zehen. Genau symmetrisch. Der einzige Fehler, den ich begangen hatte, war, dass ich meinen Fleecepulli in Logroño nach Hause geschickt hatte. Gott sei Dank hatte der Madrilene eine Sportjacke und einen Fleecepulli dabei, so dass ich immer ein warmes Kleidungsstück von ihm tragen durfte. Sonst wäre ich in den frühen Morgenstunden sicherlich oft erfroren.

 

 

Herbergen – Zweibettzimmer und 200-Mann-Matratzen-Säle, Krankheiten, Läuse und Medikamente

Über die Herbergen kann ich nur sagen: Es gab alles: von wunderschönen Doppelzimmern mit richtigen Betten (das gab es allerdings nur einmal) bis zu dreifachen Stockbetten übereinander und Wanzen im Bett (eine Wanze habe ich Gott sei Dank nur einmal gesehen. Aber ich hatte schon einige Bisse, von denen ein Blinder mit Krückstock sah, dass sie nicht von einem Mückenbiss herrühren konnten. Eine schwedische Mitpilgerin hat sich allerdings wirklich Kopfläuse eingefangen, was natürlich schlimm ist, besonders wenn man zu so vielen Menschen Kontakt hat.)

Meist waren die Schlafsäle groß, knapp 20-30 Betten war die Norm. Etagenbetten. Es gab aber auch in Klöstern Schlafsäle mit 200 Betten. Ein Hoch auf individuelle Ohrstöpsel vom Hörgeräteakustiker! Und auf Dormidina: Nachdem ich in der ersten Woche keine 5 Minuten geschlafen hatte, bin ich verzweifelt in eine Apotheke gegangen und besorgte mir dieses starke Antihistaminikum. Von da an habe ich geschlafen wie ein Murmeltier, kam aber auch morgens immer gut aus dem Bett. Immerhin meist gegen 5 Uhr. Sonst hatte ich keine großen Beschwerden. Ich habe anfangs ein paar Mal Ibuprophen 800 genommen, weil ich trotz vorangegangenem Training ziemlichen Muskelkater hatte. Die Berge waren deutlich höher und steiler als im Training, und die kontinuierliche Anstrengung war ich natürlich auch nicht gewohnt.

 

 

Die letzten 100 Kilometer oder Der spanische Run

Schlimm waren die Herbergen eigentlich nur auf den letzten 100 km vor Santiago, denn die Compostela bekommt man für diese 100 km. Dies führt dazu, dass der Weg furchtbar überlaufen ist, ebenso die Herbergen. Die Leute sind so verrückt, dass sie einen Kleinbus anmieten, der ihr Gepäck zur nächsten Herberge bringt, so dass viele nur mit Handtäschchen „Pilgern light“ genießen. Diese Leute haben wir natürlich nicht sonderlich ernst genommen. Diese Pilgermassen passen natürlich nicht in die normalen Herbergen, daher werden auch Turnhallen bereitgestellt, und die Pensionsbesitzer machen auch gute Geschäfte.

Die Herbergen nach Santiago waren wieder angenehmer, zwar auch überfüllt, das lag aber daran, dass sie nur 20 Betten hatten, aber 40 Mann vor der Tür standen. Aber da wir drei immer recht flott unterwegs waren, hatten wir nie Probleme, einen Platz zu ergattern. Was mich erstaunt hat: Zu Hause bin ich, was die Sauberkeit in Küchen und Badezimmern anbelangt, ziemlich pingelig. Dort wurde ich immer abgestumpfter. Am Ende war ich froh, überhaupt eine Dusche zu haben, egal unter was für Bedingungen. Und die sind schon manchmal ganz schön schlimm. Aber: El turista exige, el peregrino agradece. Der Tourist fordert, der Pilger dankt.

 

 

Brot und Wein

Das Essen war gut, nur extrem fett. Ich glaube, ich habe überhaupt noch nie in meinem Leben so viel und so fett gegessen. Schön, dass ich wegen der vielen Bewegung trotzdem abnahm. Wir haben nur ganz selten selbst gekocht. Meist haben wir das so genannte „Pilgermenü“ in den Bars, die es in jedem noch so kleinen Örtchen gab, zu uns genommen: 3 mehr oder minder fette Gänge für zwischen 6 und 11 Euro, meist etwa 8. Dazu ein Glas Wein und einen kleinen Kräuterschnaps nach dem Essen.

 

 

Spiritualität, die selbst beim Rucksackpacken erfahrbar wird

Und spirituell? Ich habe durch die sehr unterschiedlichen Menschen, die einem dort begegnen, sehr interessante Gespräche geführt, von lustig, abstrus bis traurig, Mut machend, verständnisvoll, tiefgehend. Da waren natürlich auch Gespräche über Beziehungen mit dabei. Über Liebe und Alltag, Freundschaft, familiäre Zwänge, Erwartungen, Träume, Ziele, Bedürfnisse, etc.

Der Weg tut sein Übriges. Vor allem die Routine des Weges. Ich habe noch nie so sehr auf mich, meinen Körper und meine Bedürfnisse gehört. Und wenn man das nicht tut, bekommt man stante pede die Quittung. Leute, die sich überanstrengen, humpeln in Folge eine Woche lang (wenn nicht mehr, ich habe ganz schön viele Invaliden mit Tendinitis gesehen), Leute, die zu wenig Wasser dabei haben, sitzen in der Meseta, der spanischen „Wüste“ zwischen Burgos und León, ganz schön auf dem Trockenen. Ich habe mehrmals welchen ausgeholfen, weil ich immer zuviel mit hatte. Aber lieber zuviel als zuwenig. Und das tut gut, auf seinen Körper zu hören. Und jeden Tag bis ins kleinste Detail die gleichen Handgriffe zu erledigen. Ich konnte meinen Rucksack im Stockdunkeln packen. Und fand auch im Stockdunklen alles.

 

 

Messen, Kirchen, Priester

Wir waren bestimmt an jedem dritten Tag in einer Messe. Ich habe eine schöne und viele nichtssagende Messen erlebt: Nichtssagend, weil anonym und der Priester distanziert und von oben herab predigte. Und dies ohne jegliches Wort Gottes. Daraufhin folgten natürlich lange Gespräche über die katholische und protestantische Liturgie und überhaupt der unterschiedlichen Sichtweisen im Allgemeinen. Und über Europa. Über Nationalitäten (warum fühlt sich ein Italiener als Italiener und ein Deutscher eher als Europäer als als Deutscher?). Über Freundschaften. Über den Tod. Über so viele Dinge.

 

 

Ankommen – aber nicht am Ende des Weges…

Und plötzlich waren es nur noch 3 Tage bis Santiago, und der Italiener verspürte plötzlich keine Schmerzen mehr, sondern nur noch eine unglaubliche Vorfreude. Woraufhin ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil ich gar nichts empfand, jedenfalls fühlten sich die letzten Tage genauso an wie die davor.  Auch nicht an dem Morgen, als wir nach Santiago kamen (wir hatten extra an dem Tag nur 5 km, damit wir in Ruhe in die Pilgermesse und uns vorher noch ein Zimmer suchen konnten). Es war mir nicht so wichtig, ob dort nun ein „Heiliger“ in seinem Grab liegt oder nicht. Aber als ich dann den Vorplatz betrat und die Kathedrale vor mir sah, überkam es mich doch. Es war wie ein kleines Zusammenbrechen, die letzten 800 km fielen mit einem Mal von mir ab, ich musste weinen. Ich habe mich auf den Boden gehockt (alleine, in diesem Moment war jeder von uns für sich) und habe „Christ ist erstanden“ gesungen. Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Und dabei habe ich die Menschen auf dem Platz betrachtet, und mir fiel auf, dass mir Gott in all diesen Menschen viel näher war als in dieser überladenen Kirche. Ein überwältigendes Gefühl.

 

 

Ein gemeinsames Vaterunser in drei Sprachen

Wir haben 2 Tage in Santiago verbracht, bevor wir weiter nach Finisterre gelaufen sind. Da war das Gefühl, als ich ankam, ganz anders: Eigentlich hatte das Meer mein Ziel des Jakobsweges bedeutet (ich brauche halt keine Kirche), aber nicht das Ende und Ziel des ganzen Weges – der Weg geht weiter. Und als ich das Meer sah, musste ich nicht weinen, sondern lachen. Tat gut! Vor allem der Sonnenuntergang tat gut. Wieder war jeder für sich, alleine mit seinen Gedanken. Anschließend haben wir drei gemeinsam das Vaterunser gebetet, an den Händen angefasst, in drei verschiedenen Sprachen. Das war ein unglaublich intensives Gefühl, das die große Verbundenheit, die wir auf dem Camino erfahren hatten, widerspiegelte.

Wir sind anschließend mit dem Bus nach Santiago zurückgefahren. Und dort habe ich dann Robert wieder getroffen, der gerade ankam. So schloss sich der Kreis.